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Das Urteil

Chủ đề trong 'Văn học' bởi Angelique, 21/05/2001.

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  1. Angelique

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    17/04/2001
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    Das Urteil
    Kafka, Franz

    VORBEMERKUNG







    Ein schmerzlicher Ton in den Literaturen aller Zeiten hat nie aufgehửrt zu klingen. Die Begrenztheit des menschlichen Herzens gegenỹber dem Unendlichen seiner Umgebung, dem Unendlichen seiner Leidenschaft konnte nicht leicht einen treffenderen Ausdruck finden. Indes blieb die Trauer wỹrdevoll, Klageworte erschollen verzweifelt, doch mit reinen Lauten, und die Hoffnung auf eine Besserung der menschlichen Zustọnde wurde niemals ganz abgewiesen. Es war daher die leidvolle Darstellung stets vereinbar mit der heiteren, und durch nahezu unmerkliche ĩbergọnge wurden die heroische Grửòe wie der spửttische ĩbermut, das Unglỹck wie die Befriedigung als Ganzes ein und desselben verehrungswỹrdigen Lebens empfunden.

    Mit diesen tragischen und idyllischen Szenen kann eine gewisse giftige Polemik in unseren Tagen nicht verwechselt werden. Spricht sich in jenen die Verlassenheit des edlen Gemỹts aus, das an seine unsterbliche Quelle zurỹckstrebt: so hat hingegen in dieser ein ĩbermaò von Verwicklung und Eifer das Wort, die Gereiztheit einer Seele, die sich in kleinen Gegenstọnden zu verlieren, immer tiefer zu verketten sucht, die endlich auf ihre ganz persửnlichen Angelegenheiten herabgedrỹckt wird, wobei sie dem rger und der satirischen Betọtigung immer sicherer verfọllt.

    Das Jahrbuch "Arkadia" will sich von dieser gehọssigen Stellung Begen die Welt abgrenzen. Doch wie die Politik im Kleinen, sei auch, um gleich entschieden vorzugehen, die groòe Politik fỹr diese Blọtter ausgeschaltet... Der Beobachter unserer Zeit dỹrfte nọmlich schon lọngst mit Befremden wahrgenommen haben, daò in den meisten, in allen jetzt erscheinenden groòen Revuen die Dichtkunst den zweiten Platz hat, wọhrend politische und sozialửkonomische Erửrterungen den ersten Rang einnehmen. Ein innerer Grund fỹr diese Verschwisterung ist nicht aufzufinden. Praktische redaktionelle Bedỹrfnisse scheinen hier bewirkt zu haben, daò der Typus der deutschen Zeitschrift aus klassischer und


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    vorklassischer Zeit, der lediglich den poetischen Bedỹrfnissen der Mitteilenden und Empfangenden entsprang, nahezu verschwunden ist. Das kleinste Literaturblatt noch glaubt sich mit einem aktuellen wirtschaftlichen oder nationalen Leitartikel schmỹcken zu mỹssen.-Unser Jahrbuch ist ein Versuch, ausschlieòlich und in Reinheit die dichterisch-gestaltenden Krọfte der Zeit, und zwar auf allen Gebieten der Dichtkunst, wirken zu lassen: die dramatische Szene, die Erzọhlung, die poetische Betrachtung und die Lyrik.

    Wir schlieòen daher auch jene Essais aus, welche wissenschaftliche Fragen in halbwissenschaftlicher Form, mit willkỹrlicher Terminologie, mit Witzen und Wortspielen an Stelle der Argumente behandeln.

    Die literarische Kritik scheint uns, mit wenigen Ausnahmen, auf der Stufe solcher zwitterhafter Halbwissenschaft zu stehen. Daher haben Buchbesprechungen hier keinen Raum gefunden, wiewohl wir die Mửglichkeit, Kritik in ihrer wertwollen Form miteinbeziehen zu kửnnen, gern im Sinne behalten.

    Dadurch, daò nur Gestaltungen in "Arkadia" vereinigt sind, ist wohl eine innere Gemeinschaft, eine unsichtbare Kirche der beteiligten Autoren gegeben; doch ist eine Gruppenbildung nicht im entferntesten beabsichtigt, eine personliche ĩbereinstimmung der Dichter untereinander und mit den hier vorgetragenen Richtlinien wurde weder vermutet noch angestrebt.-So wie wir nọmlich ỹberzeugt davon sind, daò die auf das ĩberirdische hindeutende hymnische Kraft der Dichtkunst keines Nebenwerks und keines Parteiinteresses bedarf, um mit der ihr einwohnenden lauteren Hoheit fỹr die Menschheit wirksam zu sein, so scheint uns auch der einzelne Dichter, so reizvoll das Aufspỹren von Zusammenhọngen sein mag, in seiner Einmaligkeit und Ganzheit am besten gewỹrdigt werden zu kửnnen.


    Der Herausgeber.

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    DAS URTEIL
    EINE GESCHICHTE VON FRANZ KAFKA
    fỹr Frọulein Felice B.
    Es war an einem Sonntagvormittag im schửnsten Frỹhjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saò in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Họuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Hửhe und Fọrbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloò ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestỹtzt, aus dem Fenster auf den Fluò, die Brỹcke und die Anhửhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grỹn.

    Er dachte darỹber nach, wie dieser Freund, mit seinem Fortkommen zu Hause unzufrieden, vor Jahren schon nach Ruòland sich fửrmlich geflỹchtet hatte. Nun betrieb er ein Geschọft in Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen hatte, seit langem aber schon zu stocken schien, wie der Freund bei seinen immer seltener werdenden Besuchen klagte. So arbeitete er sich in der Fremde nutzlos ab, der fremdartige Vollbart verdeckte nur schlecht das seit den Kinderjahren wohlbekannte Gesicht, dessen gelbe Hautfarbe auf eine sich entwickelnde Krankheit hinzudeuten schien. Wie er erzọhlte, hatte er keine rechte Verbindung mit der dortigen Kolonie seiner Landsleute, aber auch fast keinen gesellschaftlichen Verkehr mit einheimischen Familien und richtete sich so fỹr ein endgỹltiges Junggesellentum ein.

    Was sollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber nicht helfen konnte. Sollte man ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kommen, seine Existenz hierher zu verlegen, alle die alten freundschaftlichen Beziehungen wieder aufzunehmen-wofỹr ja kein Hindernis bestand-und im ubrigen auf die Hilfe der Freunde zu vertrauen? Das bedeutete aber nichts anderes, als


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    daò man ihm gleichzeitig, je schonender, desto krọnkender, sagte, daò seine bisherigen Versuche miòlungen seien, daò er endlich von ihnen ablassen solle, daò er zurỹckkehren und sich als ein fỹr immer Zurỹckgekehrter von allen mit groòen Augen anstaunen lassen mỹsse, daò nur seine Freunde etwas verstỹnden und daò er ein altes Kind sei, das den erfolgreichen, zu Hause gebliebenen Freunden einfach zu folgen habe. Und war es dann noch sicher, daò alle die Plage, die man ihm antun mỹòte, einen Zweck họtte? Vielleicht gelang es nicht einmal, ihn ỹberhaupt nach Hause zu bringen-er sagte ja selbst, daò er die Verhọltnisse in der Heimat nicht mehr verstỹnde-und so bliebe er dann trotz allem in seiner Fremde, verbittert durch die Ratschlọge und den Freunden noch ein Stỹck mehr entfremdet. Folgte er aber wirklich dem Rat und wỹrde hier-natỹrlich nicht mit Absicht, aber durch die Tatsachen-niedergedrỹckt, fọnde sich nicht in seinen Freunden und nicht ohne sie zurecht, litte an Beschọmung, họtte jetzt wirklich keine Heimat und keine Freunde mehr, war es da nicht viel besser fỹr ihn, er blieb in der Fremde, so wie er war? Konnte man denn bei solchen Umstọnden daran denken, daò er es hier tatsọchlich vorwọrts bringen wurde?

    Aus diesen Grỹnden konnte man ihm, wenn man noch ỹberhaupt die briefliche Verbindung aufrecht erhalten wollte, keine eigentlichen Mitteilungen machen, wie man sie ohne Scheu auch den entferntesten Bekannten machen wỹrde. Der Freund war nun schon ỹber drei Jahre nicht in der Heimat gewesen und erklọrte dies sehr notdỹrftig mit der Unsicherheit der politischen Verhọltnisse in Ruòland, die demnach also auch die kurzeste Abwesenheit eines kleinen Geschọftsmannes nicht zulieòen, wọhrend hunderttausende Russen ruhig in der Welt herumfuhren. Im Laufe dieser drei Jahre hatte sich aber gerade fỹr Georg vieles verọndert. Von dem Todesfall von Georgs Mutter, der vor etwa zwei Jahren erfolgt war und seit welchem Georg mit seinem alten Vater in gemeinsamer Wirtschaft lebte, hatte der Freund


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    wohl noch erfahren und sein Beileid in einem Brief mit einer Trockenheit ausgedrỹckt, die ihren Grund nur darin haben konnte, daò die Trauer ỹber ein solches Ereignis in der Fremde ganz unvorstellbar wird. Nun hatte aber Georg seit jener Zeit, so wie alles andere, auch sein Geschọft mit grửòerer Entschlossenheit angepackt. Vielleicht hatte ihn der Vater bei Lebzeiten der Mutter dadurch, daò er im Geschọft nur seine Ansicht gelten lassen wollte, an einer wirklichen eigenen Tọtigkeit gehindert, vielleicht war der Vater seit dem Tode der Mutter, trotzdem er noch immer im Geschọfte arbeitete, zurỹckhaltender geworden, vielleicht spielten-was sogar sehr wahrscheinlich war- glỹckliche Zufọlle eine weit wichtigere Rolle, jedenfalls aber hatte sich das Geschọft in diesen zwei Jahren ganz unerwartet entwickelt, das Personal hatte man verdoppeln mỹssen, der Umsatz hatte sich verfỹnffacht, ein weiterer Fortschritt stand zweifellos bevor.

    Der Freund aber hatte keine Ahnung von dieser Verọnderung. Frỹher, zum letztenmal vielleicht in jenem Beileidsbrief, hatte er Georg zur Auswanderung nach Ruòland ỹberreden wollen und sich ỹber die Aussichten verbreitet, die gerade fỹr Georgs Geschọftszweig in Petersburg bestanden. Die Ziffern waren verschwindend gegenỹber dem Umfang, den Georgs Geschọft jetzt angenommen hatte. Georg aber hatte keine Lust gehabt, dem Freund von seinen geschọftlichen Erfolgen zu schreiben, und họtte er es jetzt nachtrọglich getan, es họtte wirklich einen merkwỹrdigen Anschein gehabt.

    So beschrọnkte sich Georg darauf, dem Freund immer nur ỹber bedeutungslose Vorfọlle zu schreiben, wie sie sich, wenn man an einem ruhigen Sonntag nachdenkt, in der Erinnerung ungeordnet aufhọufen. Er wollte nichts anderes, als die Vorstellung ungestửrt lassen, die sich der Freund von der Heimatstadt in der langen Zwischenzeit wohl gemacht und mit welcher er sich abgefunden hatte. So geschah es Georg, daò er dem Freund die Verlobung eines gleichgỹltigen Menschen mit einem


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    ebenso gleichgỹltigen Mọdchen dreimal in ziemlich weit auseinanderliegenden Briefen anzeigte, bis sich dann allerdings der Freund, ganz gegen Georgs Absicht, fỹr diese Merkwỹrdigkeit zu interessieren begann.

    Georg schrieb ihm aber solche Dinge viel lieber, als daò er zugestanden họtte, daò er selbst vor einem Monat mit einem Frọulein Frieda Brandenfeld, einem Mọdchen aus wohlhabender Familie, sich verlobt hatte. Oft sprach er mit seiner Braut ỹber diesen Freund und das besondere Korrespondenzverhọltnis, in welchem er zu ihm stand. "Da wird er gar nicht zu unserer Hochzeit kommen," sagte sie, "und ich habe doch das Recht, alle deine Freunde kennen zu lernen." "Ich will ihm nicht stửren," antwortete Georg, "verstehe mich recht, er wỹrde wahrscheinlich kommen, wenigstens glaube ich es, aber er wỹrde sich gezwungen und geschọdigt fỹhlen, vielleicht mich beneiden und sicher unzufrieden und unfọhig, diese Unzufriedenheit jemals zu beseitigen, allein wieder zurỹckfahren. Allein-weiòt du, was das ist?" "Ja, kann er denn von unserer Heirat nicht auch auf andere Weise erfahren?" "Das kann ich allerdings nicht verhindern, aber es ist bei seiner Lebensweise unwahrscheinlich." "Wenn du solche Freunde hast, Georg, họttest du dich ỹberhaupt nicht verloben sollen." "Ja. das ist unser beider Schuld; aber ich wollte es auch jetzt nicht anders haben." Und wenn sie dann, rasch atmend unter seinen Kỹssen, noch vorbrachte: "Eigentlich krọnkt es mich doch", hielt er es wirklich fỹr unverfọnglich, dem Freund alles zu schreiben. "So bin ich und so hat er mich hinzunehmen", sagte er sich, "Ich kann nicht aus mir einen Menschen herausschneiden, der vielleicht fỹr die Freundschaft mit ihm geeigneter wọre, als ich es bin."

    Und tatsọchlich berichtete er seinem Freunde in dem langen Brief, den er an diesem Sonntagvormittag schrieb, die erfolgte Verlobung mit folgenden Worten: "Die beste Neuigkeit habe ich mir bis zum Schluò aufgespart. Ich habe mich mit einem Frọulein Frieda Brandenfeld verlobt, einem Mọdchen aus einer wohlhabenden


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    Familie, die sich hier erst lange nach Deiner Abreise angesiedelt hat, die Du also kaum kennen dỹrftest. Es wird sich noch Gelegenheit finden, Dir Nọheres ỹber meine Braut mitzuteilen, heute genỹge Dir, daò ich recht glỹcklich bin und daò sich in unserem gegenseitigen Verhọltnis nur insoferne etwas geọndert hat, als Du jetzt in mir statt eines ganz gewửhnlichen Freundes einen glỹcklichen Freund haben wirst. Auòerdem bekommst Du in meiner Braut, die Dich herzlich grỹòen lọòt, und die Dir nọchstens selbst schreiben wird, eine aufrichtige Freundin, was fỹr einen Junggesellen nicht ganz ohne Bedeutung ist. Ich weiò, es họlt Dich vielerlei von einem Besuche bei uns zurỹck, wọre aber nicht gerade meine Hochzeit die richtige Gelegenheit, einmal alle Hindernisse ỹber den Haufen zu werfen? Aber wie dies auch sein mag, handle ohne alle Rỹcksicht und nur nach Deiner Wohlmeinung."

    Mit diesem Brief in der Hand war Georg lange, das Gesicht dem Fenster zugekehrt, an seinem Schreibtisch gesessen. Einem Bekannten, der ihn im Vorỹbergehen von der Gasse aus gegrỹòt hatte, hatte er kaum mit einem abwesenden Lọcheln geantwortet.

    Endlich steckte er den Brief in die Tasche und ging aus seinem Zimmer quer durch einen kleinen Gang in das Zimmer seines Vaters, in dem er schon seit Monaten nicht gewesen war. Es bestand auch sonst keine Nửtigung dazu, denn er verkehrte mit seinem Vater stọndig im Geschọft, das Mittagessen nahmen sie gleichzeitig in einem Speisehaus ein, abends versorgte sich zwar jeder nach Belieben, doch saòen sie dann meistens, wenn nicht Georg, wie es am họufigsten geschah, mit Freunden beisammen war oder jetzt seine Braut besuchte, noch ein Weilchen, jeder mit seiner Zeitung, im gemeinsamen Wohnzimmer.

    Georg staunte darỹber, wie dunkel das Zimmer des Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag war. Einen solchen Schatten warf also die hohe Mauer, die sich jenseits des schmalen Hofes erhob. Der Vater saò beim Fenster in einer Ecke, die mit verschiedenen Andenken an die selige Mutter ausgeschmỹckt war,


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    und las die Zeitung, die er seitlich vor die Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschwọche auszugleichen suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Frỹhstỹcks, von dem nicht viel verzehrt zu sein schien.

    "Ah, Georg!" sagte der Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock ửffnete sich im Gehen, die Enden umflatterten ihn-"mein Vater ist noch immer ein Riese", sagte sich Georg.

    "Hier ist es ja unertrọglich dunkel", sagte er dann.

    "Ja, dunkel ist es schon", antwortete der Vater.

    "Das Fenster hast du auch geschlossen?"

    "Ich habe es lieber so.'

    "Es ist ja ganz warm drauòen, sagte Georg, wie Im Nachhang zu dem Frỹheren, und setzte sich.

    Der Vater rọumte das Frỹhstỹcksgeschirr ab und stellte es auf einen Kasten.

    "Ich wollte dir eigentlich nur sagen," fuhr Georg fort, der den Bewegungen des alten Mannes ganz verloren folgte, "daò ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe." Er zog den Brief ein wenig aus der Tasche und lieò ihn wieder zurỹckfallen.

    "Wieso nach Petersburg?" fragte der Vater.

    "Meinem Freunde doch", sagte Georg und suchte des Vaters Augen.-"Im Geschọft ist er doch ganz anders," dachte er, "wie er hier breit sitzt und die Arme ỹber der Brust kreuzt."

    "Ja. Deinem Freunde", sagte der Vater mit Betonung.

    "Du weiòt doch, Vater, daò ich ihm meine Verlobung zuerst verschweigen wollte. Aus Rỹcksichtnahme, aus keinem anderen Grunde sonst. Du weiòt selbst, er ist ein schwieriger Mensch. Ich sagte mir, von anderer Seite kann er von meiner Verlobung wohl erfahren, wenn das auch bei seiner einsamen Lebensweise kaum wahrscheinlich ist-das kann ich nicht hindern-, aber von mir selbst soll er es nun einmal nicht erfahren.'


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    "Und jetzt hast du es dir wieder anders ỹberlegt?" fragte der Vater, legte die groòe Zeitung auf den Fensterbord und auf die Zeitung die Brille, die er mit der Hand bedeckte.

    "Ja, jetzt habe ich es mir wieder ỹberlegt. Wenn er mein guter Freund ist, sagte ich mir, dann ist meine glỹckliche Verlobung auch fỹr ihn ein Glỹck. Und deshalb habe ich nicht mehr gezửgert, es ihm anzuzeigen. Ehe ich jedoch den Brief einwarf, wollte ich es dir sagen."

    "Georg," sagte der Vater und zog den zahnlosen Mund in die Breite, "hửr' einmal! Du bist wegen dieser Sache zu mir gekommen, um dich mit mir zu beraten. Das ehrt dich ohne Zweifel. Aber es ist nichts, es ist ọrger als nichts, wenn du mir jetzt nicht die volle Wahrheit sagst. Ich will nicht Dinge aufrỹhren, die nicht hierher gehửren. Seit dem Tode unserer teueren Mutter sind gewisse unschửne Dinge vorgegangen. Vielleicht kommt auch fỹr sie die Zeit und vielleicht kommt sie frỹher, als wir denken. Im Geschọft entgeht mir manches, es wird mir vielleicht nicht verborgen ich will jetzt gar nicht die Annahme machen, daò es mir verborgen wird-, ich bin nicht mehr krọftig genug, mein Gedọchtnis laòt nach, ich habe nicht mehr den Blick fỹr alle die vielen Sachen. Das ist erstens der Ablauf der Natur, und zweitens hat mich der Tod unseres Mỹtterchens viel mehr niedergeschlagen als dich.-Aber weil wir gerade bei dieser Sache halten, bei diesem Brief, so bitte ich dich, Georg, tausche mich nicht. Es ist eine Kleinigkeit, es ist nicht des Atems wert, also tọusche mich nicht. Hast du wirklich diesen Freund in Petersburg?"

    Georg stand verlegen auf. "Lassen wir meine Freunde sein. Tausend Freunde ersetzen mir nicht meinen Vater. Weiòt du, was ich glaube? Du schonst dich nicht genug. Aber das Alter verlangt seine Rechte. Du bist mir im Geschọft unentbehrlich, das weiòt du ja sehr genau, aber wenn das Geschọft deine Gesundheit bedrohen sollte, sperre ich es noch morgen fỹr immer. Das geht nicht. Wir mỹssen da eine andere Lebensweise fỹr dich


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    einfỹhren. Aber von Grund aus. Du sitzt hier im Dunkel und im Wohnzimmer họttest du schửnes Licht. Du nippst vom Frỹhstỹck, statt dich ordentlich zu stọrken. Du sitzt bei geschlossenem Fenster und die Luft wỹrde dir so gut tun. Nein, mein Vater! Ich werde den Arzt holen und seinen Vorschriften werden wir folgen. Die Zimmer werden wir wechseln, du wirst ins Vorderzimmer ziehen, ich hierher. Es wird keine Verọnderung fỹr dich sein, alles wird mit ỹbertragen werden. Aber das alles hat Zeit, jetzt lege dich noch ein wenig ins Bett, du brauchst unbedingt Ruhe. Komm, ich werde dir beim Ausziehn helfen, du wirst sehn, ich kann es. Oder willst du gleich ins Vorderzimmer gehn, dann legst du dich vorlọufig in mein Bett. Das wọre ỹbrigens sehr vernỹnftig.'

    Georg stand knapp neben seinem Vater, der den Kopf mit dem struppigen weiòen Haar auf die Brust hatte sinken lassen.

    "Georg", sagte der Vater leise, ohne Bewegung.

    Georg kniete sofort neben dem Vater nieder, er sah die Pupillen in dem mỹden Gesicht des Vaters ỹbergroò in den Winkeln der Augen auf sich gerichtet.

    "Du hast keinen Freund in Petersburg. Du bist immer ein Spaòmacher gewesen und hast dich auch mir gegenỹber nicht zurỹckgehalten. Wie solltest du denn gerade dort einen Freund haben! Das kann ich gar nicht glauben."

    "Denk doch noch einmal nach, Vater," sagte Georg, hob den Vater vom Sessel und zog ihm, wie er nun doch recht schwach dastand, den Schlafrock aus, "jetzt wird es bald drei Jahre her sein, da war ja mein Freund bei uns zu Besuch. Ich erinnere mich noch, daò du ihn nicht besonders gern hattest. Wenigstens zweimal habe ich ihn vor dir verleugnet, trotzdem er gerade bei mir im Zimmer saò. Ich konnte ja deine Abneigung gegen ihn ganz gut verstehn, mein Freund hat seine Eigentỹmlichkeiten. Aber dann hast du dich doch auch wieder ganz gut mit ihm unterhalten. Ich war damals noch so stolz darauf, daò du ihm zuhửrtest, nicktest und fragtest. Wenn du nachdenkst, muòt du


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    dich erinnern. Er erzọhlte damals unglaubliche Geschichten von der russischen Revolution. Wie er z. B. auf einer Geschọftsreise in Kiew bei einem Tumult einen Geistlichen auf einem Balkon gesehen hatte, der sich ein breites Blutkreuz in die flache Hand schnitt, diese Hand erhob und die Menge anrief. Du hast ja selbst diese Geschichte hie und da wiedererzọhlt."

    Wọhrenddessen war es Georg gelungen, den Vater wieder niederzusetzen und ihm die Trikothose, die er ỹber den Leinenunterhosen trug, sowie die Socken vorsichtig auszuziehn. Beim Anblick der nicht besonders reinen Wọsche machte er sich Vorwỹrfe, den Vater vernachlọssigt zu haben. Es wọre sicherlich auch seine Pflicht gewesen, ỹber den Wọschewechsel seines Vaters zu wachen. Er hatte mit seiner Braut darỹber, wie sie die Zukunft des Vaters einrichten wollten, noch nicht ausdrỹcklich gesprochen, denn sie hatten stillschweigend vorausgesetzt, daò der Vater allein in der alten Wohnung bleiben wỹrde. Doch jetzt entschloò er sich kurz mit aller Bestimmtheit, den Vater in seinen kỹnftigen Haushalt mitzunehmen. Es schien ja fast, wenn man genauer zusah, daò die Pflege, die dort dem Vater bereitet werden sollte, zu spọt kommen kửnnte.

    Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches Gefỹhl hatte er, als er wọhrend der paar Schritte zum Bett hin merkte, daò an seiner Brust der Vater mit seiner Uhrkette spiele. Er konnte ihn nicht gleich ins Bett legen, so fest hielt er sich an dieser Uhrkette.

    Kaum war er aber im Bett, schien alles gut. Er deckte sich selbst zu und zog dann die Bettdecke noch besonders weit ỹber die Schulter. Er sah nicht unfreundlich zu Georg hinauf.

    "Nicht wahr, du erinnerst dich schon an ihn?" fragte Georg und nickte ihm aufmunternd zu.

    "Bin ich jetzt gut zugedeckt?" fragte der Vater, als kửnne er nicht nachschauen, ob die Fỹòe genug bedeckt seien.

    "Es gefọllt dir also schon im Bett", sagte Georg und legte das Deckzeug besser um ihn.


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    "Bin ich gut zugedeckt?" fragte der Vater noch einmal und schien auf die Antwort besonders aufzupassen.

    "Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt."

    "Nein!" rief der Vater, daò die Antwort an die Frage stieò, warf die Decke zurỹck mit einer Kraft, daò sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett. Nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond. "Du wolltest mich zudecken, das weiò ich, mein Frỹchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug fỹr dich, zuviel fỹr dich. Wohl kenne ich deinen Freund. Er wọre ein Sohn nach meinem Herzen. Darum hast du ihn auch betrogen die ganzen Jahre lang. Warum sonst? Glaubst du, ich habe nicht um ihn geweint? Darum doch sperrst du dich in dein Bureau, niemand soll stửren, der Chef ist beschọftigt-nur damit du deine falschen Briefchen nach Ruòland schreiben kannst. Aber den Vater muò glỹcklicherweise niemand lehren, den Sohn zu durchschauen. Wie du jetzt geglaubt hast, du họttest ihn untergekriegt, so untergekriegt, daò du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er rỹhrt sich nicht, da hat sich mein Herr Sohn zum Heiraten entschlossen!"

    Georg sah zum Schreckbild seines Vaters auf. Der Petersburger Freund, den der Vater plửtzlich so gut kannte, ergriff ihn, wie noch nie. Verloren im weiten Ruòland sah er ihn. An der Tỹre des leeren, ausgeraubten Geschọftes sah er ihn. Zwischen den Trỹmmern der Regale, den zerfetzten Waren, den fallenden Gasarmen stand er gerade noch. Warum hatte er so weit wegfahren mỹssen!

    "Aber schau mich an!" rief der Vater, und Georg lief, fast zerstreut, zum Bett, um alles zu fassen, stockte aber in der Mitte des Weges.

    "Weil sie die Rocke gehoben hat," fing der Vater zu flửten an, "weil sie die Rửcke so gehoben hat, die widerliche Gans," und er hob, um das darzustellen, sein Hemd so hoch, daò man auf seinem Oberschenkel die Narbe aus seinen Kriegsjahren sah,


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    "weil sie die Rửcke so und so und so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht, und damit du an ihr ohne Stửrung dich befriedigen kannst, hast du unserer Mutter Andenken geschọndet, den Freund verraten und deinen Vater ins Bett gesteckt, damit er sich nicht rỹhren kann. Aber kann er sich rỹhren oder nicht?"

    Und er stand vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht.

    Georg stand in einem Winkel, mửglichst weit vom Vater. Vor einer langen Weile hatte er sich fest entschlossen, alles vollkommen genau zu beobachten, damit er nicht irgendwie auf Umwegen, von hinten her, von oben herab ỹberrascht werden kửnne. Jetzt erinnerte er sich wieder an den lọngst vergessenen Entschluò und vergaò ihn, wie man einen kurzen Faden durch ein Nadelửhr zieht.

    "Aber der Freund ist nun doch nicht verraten!" rief der Vater, und sein hin-und herbewegter Zeigefinger bekrọftigte es. "Ich war sein Vertreter hier am Ort."

    "Komửdiant!" konnte sich Georg zu rufen nicht enthalten, erkannte sofort den Schaden und biò, nur zu spọt,-die Augen erstarrt-in seine Zunge, daò er vor Schmerz einknickte.

    "Ja, freilich habe ich Komửdie gespielt! Komửdie! Gutes Wort! Welcher andere Trost blieb dem alten verwitweten Vater? Sag'-und fỹr den Augenblick der Antwort sei du noch mein lebender Sohn-, was blieb mir ỹbrig, in meinem Hinterzimmer, verfolgt vom ungetreuen Personal, alt bis in die Knochen? Und mein Sohn ging im Jubel durch die Welt, schloò Geschọfte ab, die ich vorbereitet hatte, uberpurzelte sich vor Vergnỹgen und ging vor seinem Vater mit dem verschlossenen Gesicht eines Ehrenmannes davon! Glaubst du, ich họtte dich nicht geliebt, ich, von dem du ausgingst?"

    "Jetzt wird er sich vorbeugen," dachte Georg, "wenn er fiele und zerschmetterte!" Dieses Wort durchzischte seinen Kopf.

    Der Vater beugte sich vor, fiel aber nicht. Da Georg sich nicht nọherte, wie er erwartet hatte, erhob er sich wieder.


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    "Bleib', wo du bist, ich brauche dich nicht! Du denkst, du hast noch die Kraft, hierher zu kommen und họltst dich bloò zurỹck, weil du so willst. Daò du dich nicht irrst! Ich bin noch immer der viel Stọrkere. Allein họtte ich vielleicht zurỹckweichen mỹssen, aber so hat mir die Mutter ihre Kraft abgegeben, mit deinem Freund habe ich mich herrlich verbunden, deine Kundschaft habe ich hier in der Tasche!"

    "Sogar im Hemd hat er Taschen!" sagte sich Georg und glaubte, er kửnne ihn mit dieser Bemerkung in der ganzen Welt unmửglich machen. Nur einen Augenblick dachte er das, denn immerfort vergaò er alles.

    "Họng' dich nur in deine Braut ein und komm' mir entgegen! Ich fege sie dir von der Seite weg, du weiòt nicht wie!"

    Georg machte Grimassen, als glaube er das nicht. Der Vater nickte bloò, die Wahrheit dessen, was er sagte, beteuernd, in Georgs Ecke hin.

    "Wie hast du mich doch heute unterhalten, als du kamst und fragtest, ob du deinem Freund von der Verlobung schreiben sollst. Er weiò doch alles, dummer Junge, er weiò doch alles! Ich schrieb ihm doch, weil du vergessen hast, mir das Schreibzeug wegzunehmen. Darum kommt er schon seit Jahren nicht, er weiò ja alles hundertmal besser als du selbst, deine Briefe zerknỹllt er ungelesen in der linken Hand, wọhrend er in der Rechten meine Briefe zum Lesen sich vorhọlt!"

    Seinen Arm schwang er vor Begeisterung ỹber dem Kopf. "Er weiò alles tausendmal besser!" rief er.

    "Zehntausendmal!" sagte Georg, um den Vater zu verlachen, aber noch in seinem Munde bekam das Wort einen toternsten Klang.

    "Seit Jahren passe ich schon auf, daò du mit dieser Frage kọmest! Glaubst du, mich kỹmmert etwas anderes? Glaubst du, ich lese Zeitungen? Da! " und er warf Georg ein Zeitungsblatt, das irgendwie mit ins Bett getragen worden war, zu. Eine alte Zeitung, mit einem Georg schon ganz unbekannten Namen.


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    "Wie lange hast du gezửgert, ehe du reif geworden bist! Die Mutter muòte sterben, sie konnte den Freudentag nicht erleben, der Freund geht zugrunde in seinem Ruòland, schon vor drei Jahren war er gelb zum Wegwerfen, und ich, du siehst ja, wie es mit mir steht. Dafỹr hast du doch Augen!"

    "Du hast mir also aufgelauert!" rief Georg.

    Mitleidig sagte der Vater nebenbei: "Das wolltest du wahrscheinlich frỹher sagen. Jetzt paòt es ja gar nicht mehr."

    Und lauter: "Jetzt weiòt du also, was es noch auòer dir gab, bisher wuòtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch!-Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!"

    Georg fỹhlte sich aus dem Zimmer gejagt, den Schlag, mit dem der Vater hinter ihm aufs Bett stỹrzte, trug er noch in den Ohren davon. Auf der Treppe, ỹber deren Stufen er wie ỹber eine schiefe Flọche eilte, ỹberrumpelte er seine Bedienerin, die im Begriffe war heraufzugehen, um die Wohnung nach der Nacht aufzurọumen. "Jesus!" rief sie und verdeckte mit der Schỹrze das Gesicht, aber er war schon davon. Aus dem Tor sprang er, ỹber die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Gelọnder fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang sich ỹber, als der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit schwọcher werdenden Họnden fest, erspọhte zwischen den Gelọnderstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall ỹbertửnen wỹrde, rief leise: "Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt", und lieò sich hinfallen.

    In diesem Augenblick ging ỹber die Brỹcke ein geradezu unendlicher Verkehr.

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